Am 24. März 2021 legte die Europäische Kommission die erste umfassende Kinderrechtsstrategie 2021–2024 der Europäischen Union (EU) vor. Zudem empfahl die Kommission den EU-Mitgliedsstaaten die Einführung einer Europäischen Kindergarantie, woraufhin der Rat der EU am 14. Juni 2021 eine Empfehlung zur Einführung einer Europäischen Garantie für Kinder annahm. Im EU-Kontext gilt als Kind eine Person unter 18 Jahren. Folglich sind diese beiden Initiativen für die Kinder- und Jugendhilfe von Relevanz.
Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ und das Netzwerk Kinderrechte – National Coalition Deutschland nahmen dies zum Anlass, bei einer gemeinsamen Online-Veranstaltung für ihre Mitglieder zu beleuchten, wie die EU-Kinderrechtsstrategie und die Europäische Kindergarantie vorangebracht werden und welche Impulse für Kinderrechte in Deutschland zu erwarten sind. Durch die Veranstaltung „Kinder. Rechte. Garantiert?“ am 27. Oktober 2021, an der knapp 100 Interessierte teilnahmen, führten die Geschäftsführerin der AGJ, Franziska Porst, und die Stellvertretende Geschäftsführerin des Netzwerks Kinderrechte, Kirsten Schweder.
Ein Überblick über die Europäische Kinderrechtsstrategie und die Kindergarantie
Um einen Überblick über die EU-Kinderrechtsstrategie und die Europäische Kindergarantie zu bekommen, wurden die beiden Initiativen zunächst von Lydia Berneburg und Sophie Gatzsche von UNICEF Deutschland vorgestellt. Als Besonderheit betonte Lydia Berneburg, dass der Entwicklung der EU-Kinderrechtsstrategie eine Konsultation von mehr als 10 000 Kindern vorausgegangen sei. Die Kinderrechtsstrategie umfasse sechs Bereiche:
- Teilhabe am demokratischen Leben,
- wirtschaftliche und soziale Inklusion,
- Gewaltfreiheit,
- kindgerechte Justiz,
- Sicherheit im digitalen Umfeld und
- weltweites Eintreten für die Rechte von Kindern.
Die Europäische Kindergarantie, die freien und effektiven Zugang zu konkreten Leistungen, z. B. eine gesunde Mahlzeit pro Schultag, vorsehe, falle unter die zweite dieser Säulen. Beide Initiativen zielten darauf ab, die Rechte von jungen Menschen unter 18 Jahren in allen Politikbereichen mitzudenken, ihre Mitsprache zu stärken und ihnen so ein gelingendes Leben zu ermöglichen. Ein zentrales Anliegen sei die Förderung der Chancengleichheit von Kindern und Jugendlichen sowie die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung.
Input von Lydia Berneburg und Sophie Gatzsche:
Aus der Perspektive des BMFSFJ
Im Anschluss berichtete Alina Koppe für das Referat Kinderrechte national und international im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) von der Begleitung der EU-Kinderrechtsstrategie durch die Bundesregierung. Um die EU-Kinderrechtsstrategie auch jungen Menschen zugänglich zu machen, werde sie in kindgerechter Sprache auf der Webseite des Kinderministeriums thematisiert. Problematisch für den weiteren Verlauf der Umsetzung sei das Scheitern von Ratsschlussfolgerungen zur Kinderrechtsstrategie im Oktober 2021. Eine Einigung hierzu sei nicht möglich gewesen, da sich Ungarn und Polen gegen die Nennung von Kindern aus LGBTIQ+-Familien als vulnerable Gruppe ausgesprochen hätten.
Dr. Martina Kottmann, Referatsleiterin Internationale Familienpolitik im BMFSFJ, ergänzte mit Blick auf die Europäische Kindergarantie, dass die entsprechenden Ratsempfehlungen zwar keine rechtlich bindende Wirkung hätten. Es handle sich jedoch um eine einstimmig angenommene Verpflichtung, sich mit der Thematik auf nationaler Ebene auseinanderzusetzen. Diese würde durch die bis März 2022 zu entwickelnden Nationalen Aktionspläne zu einer politischen Selbstbindung. An der Entwicklung der Nationalen Aktionspläne wolle das BMFSFJ sowohl die Zivilgesellschaft als auch Kinder und Jugendliche beteiligen. Nach ersten Gesprächen erarbeiteten sie gerade eine entsprechende Arbeitsstruktur. Mit Entscheidungen, etwa zur Benennung einer*s nationalen Koordinator*in, sei aber erst nach Abschluss der Koalitionsverhandlungen zu rechnen.
Auf der Europäischen Ebene
Aus der europäischen Perspektive kommentierte Dr. Ally Dunhill, Head of Advocacy bei der europäischen Kinderrechtsorganisation Eurochild, deren Nationale Partnernetzwerke in Deutschland die AGJ und das Netzwerk Kinderrechte sind. Dr. Dunhill betonte, dass es zentral für ihre Arbeit sei, Kindern und Jugendlichen ihre Rechte bewusst zu machen und sicherzustellen, dass sie an Entscheidungen, die sie betreffen, von der lokalen bis zur europäischen Ebene beteiligt werden.
In diesem Zusammenhang hob sie eine neue Plattform zu mehr Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in allen Politikbereichen lobend hervor, die unter der EU-Kinderrechtsstrategie vorgesehen sei. Diese solle von der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament sowie zivilgesellschaftlichen Organisationen in Zusammenarbeit eingerichtet werden. Der Schlüssel sei, mit jungen Menschen zu arbeiten und nicht nur für sie. Dementsprechend hoffe sie, dass die Zivilgesellschaft sowie Kinder und Jugendliche in die Entwicklung des Nationalen Aktionsplans für die Umsetzung der Europäischen Kindergarantie in Deutschland miteinbezogen würden. Hinsichtlich der EU-Kinderrechtsstrategie unterstrich sie, dass das Scheitern der Ratsschlussfolgerungen nicht bedeute, es könne keine Umsetzung stattfinden. Im Gegenteil sollten die EU-Mitgliedsstaaten schnellstmöglich auf nationaler Ebene zur Tat schreiten.
Input von Dr. Ally Dunhill:
Diskussion und Abschlussstatements
In der folgenden Diskussion stellten die Teilnehmenden Fragen zum weiteren Umsetzungsprozess und den nächsten Schritten. Zudem wurde erörtert, wie mit Enttäuschungen von jungen Menschen umzugehen sei, die Wünsche und Vorstellungen in politischen Prozessen zum Ausdruck brächten, ihre Erwartungen aber letztlich nicht in tatsächlichen Entscheidungen widergespiegelt sähen. So hat Eurochild eine Übersicht erstellt, in der deutlich wird, dass viele der Ansprüche von Kindern und Jugendlichen, die während der Konsultation zur EU-Kinderrechtsstrategie geäußert wurden, keinen Eingang in die tatsächliche Strategie fanden. Dr. Ally Dunhill antwortete, Kinder müssten nicht auf Enttäuschungen vorbereitet werden, aber durchaus darauf, sich immer weiter einzubringen, um zum Ziel zu kommen. Dasselbe gelte für die Zivilgesellschaft.
Abschließend formulierten die Vorsitzende der AGJ, Prof. Dr. Karin Böllert, und die Sprecherin des Netzwerks Kinderrechte, Bianka Pergande, ihre Eindrücke und Erwartungen an die EU-Kinderrechtsstrategie und die Europäische Kindergarantie. Prof. Dr. Karin Böllert betonte die Wichtigkeit der Impulse, die beide Initiativen an die nationale Ebene sendeten. Dies sei gerade vor dem Hintergrund der andauernden Koalitionsverhandlungen relevant. Unter anderem stünden eine Kindergrundsicherung, eine Erweiterung des Digitalpakts Schule und eine spezielle Ausbildung für Familienrichter*innen auf ihrem Wunschzettel für die Umsetzung der EU-Kinderrechtsstrategie in Deutschland.
Bianka Pergande unterstrich, wie sehr gerade junge Menschen von Corona-Maßnahmen betroffen waren, aber keinen Einfluss auf deren Ausgestaltung gehabt hätten. Dies müsse sich ändern, doch leider sei Beteiligung für Kinder und Jugendliche immer sehr komplex. Kinderrechte müssten entsprechend umfassender mitgedacht und geschützt werden, etwa durch eine Verankerung im Grundgesetz. (Die O-Töne von Prof. Dr. Karin Böllert und Bianka Pergande wurden parallel zur Veranstaltung als SharePics über Social Media verbreitet.)
Ausblick
Insgesamt zeigte die Veranstaltung, dass das Interesse an der EU-Kinderrechtsstrategie und der Europäischen Kindergarantie durchaus groß ist. Jedoch sind EU-Initiativen häufig erklärungs- und übersetzungsbedürftig, um im nationalen Rahmen Beachtung finden zu können. Diesen Brückenbau zwischen der europäischen und der nationalen Ebene wollen die AGJ und die National Coalition auch künftig durch weitere Veranstaltungen zu europäischen Themen unterstützen. An dieser Stelle nochmal ein herzliches Dankeschön an unsere Referierenden für die wertvollen Inputs sowie an unsere Mitglieder für das große Interesse und die rege Beteiligung!