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Für den Schutz der Rechte aller Kinder: Stellungnahme des Netzwerks Kinderrechte zu den Materialien „Mein Leitfaden zur Rückkehr“ der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache Frontex

(Berlin, 20.06.2025) Für den Schutz der Rechte aller Kinder: Stellungnahme des Netzwerks Kinderrechte zu den Materialien „Mein Leitfaden zur Rückkehr“ der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache Frontex

Das Netzwerk Kinderrechte zeigt sich tief besorgt über die an Kinder gerichteten Materialien der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex. Die Broschüren, Ausmalhefte, Poster und Videos, die sich explizit an Kinder zwischen 6 und 11 Jahren sowie an Jugendliche ab 12 Jahren richten, sollen diese auf ihre Abschiebung vorbereiten. Obwohl die Materialien bereits 2023 in mehreren Sprachen erschienen sind, wurden sie erst Mitte Juni 2025 durch einen Beitrag des Hessischen Flüchtlingsrates auf der Plattform Bluesky einer breiteren Öffentlichkeit – und damit auch uns – bekannt. Wir beziehen uns auf diese Publikationen und diese Videos.

Die veröffentlichten Materialien verstoßen gegen grundlegende Prinzipien der UN-Kinderrechtskonvention. Die Kluft zwischen dem formalen Bezug auf Kinderrechte und ihrer tatsächlichen Umsetzung ist eklatant und stellt eine besonders problematische Form der Missachtung des Rechts auf angemessene und kindgerechte Information dar. Weder wird Kindern altersgerecht erklärt, wie Abschiebungsverfahren tatsächlich ablaufen, noch werden ihre Schutz- und Beteiligungsrechte benannt. Stattdessen wird der Abschiebeprozess als alternativloser, beinahe harmloser Verwaltungsakt dargestellt. Diese Verharmlosung verkennt nicht nur die Realität vieler betroffener Kinder – sie ist in ihrer Wirkung kinderrechtswidrig.

Kinderbuchartige Gestaltung als Verharmlosung

Aus kinderrechtlicher Perspektive sind die Inhalte der Materialien „Mein Leitfaden zur Rückkehr“ hoch problematisch: Die kinderbuchartige Gestaltung vermittelt den verharmlosenden Eindruck, Abschiebungen seien mit einer normalen Reise oder einem freiwilligen Umzug vergleichbar. So wird der Transport zum Flughafen als “kleine Busfahrt” dargestellt (Kapitel 4), ohne Hinweis darauf, dass es sich um einen behördlich angeordneten, möglicherweise zwangsweisen Transfer handeln kann. In Kapitel 8 werden die Kinder ermutigt, sich auf „nette neue Lehrer“, „eine neue Schule“ und „leckere neue Süßigkeiten“ zu freuen. Auf diese Weise wird ein Bild des Neuanfangs suggeriert, das reale Ängste, Belastungen und Risiken vollständig ausblendet. Weder psychosoziale Unterstützungsangebote noch Schutzmechanismen werden erwähnt. Ebenso fehlt jeder Hinweis darauf, dass Kinder auch in Länder abgeschoben werden können, mit denen sie überhaupt nichts verbinden.

Insgesamt entsteht so ein beschönigendes Narrativ für einen Zwangsprozess, der für Kinder mit Trennung, Kontrollverlust, Angst und mit einem Eingriff in ihre Grundrechte sowie erheblichen Folgen für das Kindeswohl verbunden ist. Stellenweise suggerieren die Materialien sogar Entscheidungs- und Handlungsmacht auf Seiten der Kinder und Jugendlichen, die den Charakter der Fremdbestimmung in Abschiebungsprozessen auf perfide Weise negiert. Die Komplexität und Tragweite von Abschiebungen werden nicht realitätsnah vermittelt und die traumatischen Erfahrungen, die Kinder und ihre Familien bei Abschiebungen vielfach machen, werden verharmlost. So wird das Recht auf angemessene Information gemäß der Artikel 17 bzw. 12 der UN-Kinderrechtskonvention missachtet.

Missachtung der UN-Kinderrechte in der Broschüre

Besonders irritierend ist der Bezug auf die UN-Kinderrechtskonvention zu Beginn, der den Anschein erweckt, die gegenwärtige Abschiebepraxis stünde im Einklang mit Kinderrechten. Abschiebungen sind oft mit erheblichen Gefährdungen für das Kindeswohl (Art. 3) verbunden, welches bei Entscheidungen, die Kinder betreffen, vorrangig zu berücksichtigen ist.

Kinderrechte bleiben in den Materialien abstrakt und folgenlos. Sie werden nicht mit dem konkreten Ablauf von Abschiebungen in Verbindung gebracht. Beispielweise wird im Abschnitt „Identitätspapiere und Reisedokumente“ ein Gespräch mit einer unbekannten Person zur Identitätsklärung angekündigt – ohne jede Erklärung, wer diese Person ist, warum sie Fragen stellen darf oder was geschieht, wenn das Kind nicht antworten kann oder will. Der Text gibt Kindern keinen Hinweis darauf, dass sie in solchen Situationen ein Recht auf altersgerechte Begleitung, Übersetzung und psychische Entlastung haben – und nicht zu Aussagen gedrängt werden dürfen, die sie überfordern. Dies stellt einen Verstoß gegen Artikel 3 (Kindeswohlvorrang), Artikel 8 (Recht auf Identität) und Artikel 12 (Recht auf Beteiligung) der UN-Kinderrechtskonvention dar. Die Darstellung bleibt damit nicht nur unvollständig, sondern verstärkt das reale Risiko, Kinder ohne Schutz in potenziell belastende oder einschüchternde Verhörsituationen zu bringen.

Darüber hinaus bleibt das in Artikel 22 verankerte Recht auf besonderen Schutz für geflüchtete Kinder ebenso unberücksichtigt wie Artikel 39, der Unterstützung bei psychischen Belastungen und Traumatisierungen vorsieht. Kein Abschnitt der Materialien thematisiert diese Schutzpflichten – weder inhaltlich noch strukturell.

Frontex ist in der Vergangenheit wiederholt mit dokumentierten Menschenrechtsverletzungen in Verbindung gebracht worden – insbesondere im Zusammenhang mit sogenannten Pushbacks an den EU-Außengrenzen. Aus kinderrechtlicher Perspektive ist Frontex daher weder eine geeignete noch eine glaubwürdige Institution, um Informations- und Bildungsmaterialien für Kinder zu erstellen.

Ein Appell an die politische Verantwortung

Das Netzwerk Kinderrechte Deutschland setzt sich dafür ein, dass die besonderen Bedürfnisse und Rechte aller Kinder geachtet, geschützt und in allen politischen Maßnahmen verbindlich berücksichtigt werden. Wir fordern die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten der EU nachdrücklich auf sicherzustellen, dass sämtliche Maßnahmen im Kontext von Migration und Rückführung – einschließlich ihrer Kommunikation – den verbindlichen Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention, der Europäischen Menschenrechtskonvention und der EU-Grundrechtecharta entsprechen.

Das Netzwerk Kinderrechte Deutschland fordert:

  1. Die sofortige Rücknahme der Materialien “Mein Leitfaden zur Rückkehr” durch den Verwaltungsrat von Frontex.
  2. Eine unabhängige Prüfung der kindbezogenen Kommunikation im Kontext von Abschiebungen und Flucht durch die Europäische Kommission. Insbesondere muss gewährleistet werden, dass Informationen für Kinder kindgerecht, wahrheitsgemäß und nicht irreführend sind, dass Informationen für Kinder die Rechte von Kindern im Verfahren konkret und umfassend benennen und ihrem Schutzbedürfnis in besonderem Maß Rechnung tragen.
  3. Die Beauftragung unabhängiger, kinderrechtsorientierter Fachstellen mit der Entwicklung kindgerechter und menschenrechtskonformer Informationsmaterialien.
  4. Die Sicherstellung von Verfahren, die dem Kindeswohl vorrangig Rechnung tragen, inkl. psychosozialer Begleitung, Rechtsbeistand und Beschwerdemechanismen. 

Beschlossen durch den erweiterten Vorstand des Netzwerk Kinderrechte am 19.06.2025. Die Stellungnahme wurde unter Einbeziehung von Mitgliedern des Beirats des Netzwerk Kinderrechte erarbeitet.

National Coalition Deutschland – Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention e.V.
Steinstr. 13
10119 Berlin

Mehr Informationen: https://netzwerk-kinderrechte.de/

Ansprechpartnerin: Bianka Pergande, Sprecherin, Netzwerk Kinderrechte
E-Mail: bianka.pergande@netzwerk-kinderrechte.de
Tel.: +49-179-6085 116

Die Stellungnahme als PDF finden Sie hier.