Flucht und AusbeutungÜber unsUN-DialogUN-Kinderrechtskonvention

Offener Brief: Stellungnahme zum Sicherheitspaket

Berlin, den 07.10.2024

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

im Namen des Erweiterten Vorstands des Netzwerks Kinderrechte möchten wir unsere tiefe Besorgnis über die aktuellen Gesetzesvorhaben und migrationspolitischen Diskussionen äußern. Insbesondere möchten wir auf die Auswirkungen des geplanten „Sicherheitspakets“ (Bundestagsdrucksache 20/12805) und die damit verbundenen gesetzlichen Verschärfungen für geflüchtete Kinder aufmerksam machen. Diese Maßnahmen stehen nicht nur in Konflikt mit dem Verfassungsrecht und europäischem Recht, sondern auch mit den grundlegenden Prinzipien der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK), zu deren Einhaltung sich Deutschland verpflichtet hat und zu deren Berichtsverfahren das Netzwerk Kinderrechte als zivilgesellschaftlicher Akteur maßgeblich beiträgt.

Die Rechte geflüchteter Kinder im Mittelpunkt
Der UN-Kinderrechteausschuss hat immer wieder, zuletzt in seinen Empfehlungen vom September 2022 (CRC/C/DEU/CO/5-6) klar formuliert, dass das Wohl und die Rechte aller Kinder – unabhängig von ihrer Herkunft oder ihrem Aufenthaltsstatus – stets im Vordergrund stehen müssen. Zu den zentralen Bereichen, die dringenden Handlungsbedarf erfordern, gehören demnach:

  • Gewährleistung eines kindgerechten Asylverfahrens: Asylsuchende Kinder sollten auf kindgerechte Weise angehört und beraten werden. Die Verfahren zur Alterseinschätzung sollten einheitlich und multidisziplinär sein, unter Wahrung des Grundsatzes „In dubio pro reo“ (Abs. 40).
  • Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und Sozialleistungen: Kinder in Erstaufnahmeeinrichtungen und -zentren sollten schnellstmöglich Zugang zu formeller Bildung im regulären Schulsystem und einer umfassenden Gesundheitsversorgung erhalten. Es muss sichergestellt werden, dass alle Kinder – einschließlich unbegleiteter Minderjähriger – umfassende Leistungen ohne Kürzungen oder Diskriminierung beziehen können (Abs. 31, 36, 40).
  • Wahrung des Kindeswohls in allen Verfahren: Der Vorrang des Kindeswohls muss in jedem Gesetz, jeder Maßnahme und jedem Verfahren zur Anwendung kommen, einschließlich Asylverfahren, Migration und Familiensituationen (Abs. 16, 40).

Bedenken bezüglich des „Sicherheitspakets“
Der aktuelle Gesetzentwurf zum „Sicherheitspaket“ sieht weitreichende Verschärfungen vor, darunter drastische Leistungskürzungen für Kinder, für deren Asylverfahren ein anderer EU-Mitgliedstaat zuständig ist (sogenannte „Dublin-Fälle“). Die im Sicherheitspaket vorgesehene Begrenzung auf Leistungen unterhalb des Existenzminimums und die drohende Leistungskürzung auf null widersprechen sowohl dem Grundgesetz als der UN-KRK, insbesondere dem Wohl des Kindes. Diese Maßnahmen gefährden den Zugang von Kindern zu Grundbedürfnissen wie Unterkunft, Nahrung, Kleidung und Gesundheitsversorgung, aber auch Teilhabe oder Bildung. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits klargestellt, dass eine Kürzung der Leistungen für Asylsuchende auf null nicht mit dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum vereinbar ist. Die im Gesetzentwurf vorgesehene Ausnahme in Fällen „außergewöhnlicher Härte“ setzt eine zu hohe Hürde an, zudem ist unklar, wann diese vorliegt. Um den Bedürfnissen und Rechten von geflüchteten Kindern und ihren Familien gerecht zu werden, sollten sie grundsätzlich von Leistungskürzungen ausgenommen werden. Dem vorrangigen Prinzip des Kindeswohls muss für jedes Kind in Deutschland, egal woher es kommt oder welchen Aufenthaltsstatus es hat, Rechnung getragen werden. Die geplanten Maßnahmen würden zu einer unklaren und unsicheren Situation führen, in der vielen Kindern und Familien Obdachlosigkeit und Mangelversorgung drohen.

Empfehlungen des Netzwerks Kinderrechte
Im Sinne der Rechte der hier ankommenden Kinder und im Einklang mit den Empfehlungen des UN-Kinderrechteausschusses (CRC/C/DEU/CO/5-6) empfehlen wir daher:

  1. Ausnahmen von Leistungskürzungen für Kinder und ihre Familien: Es muss eine klare Regelung geben, dass Kinder und ihre Familien von Leistungskürzungen ausgenommen sind, um sicherzustellen, dass alle Kinder ein menschenwürdiges Existenzminimum in Deutschland haben (Abs. 31, 40).
  2. Sicherstellung des Zugangs zu Bildung und Gesundheitsversorgung: Ein uneingeschränkter Zugang zu Gesundheitsleistungen sowohl physisch als auch psychisch sollte für die Kinder sichergestellt werden. Auch die Teilnahme am Unterricht in Regelschulen und der Kitabesuch von Kindern in Erstaufnahmeeinrichtungen ist essentiell für die Kinder und ihre Stabilisierung und muss gewährleistet werden (Abs. 31, 36, 40).
  3. Ausrichtung der Gesetzgebung am Vorrang des Kindeswohls: Jede gesetzliche Regelung oder Reform muss vom Vorrang des Wohls des Kindes geleitet sein. Dies betrifft auch die Diskussionen im Rahmen von Zurückweisungen an Grenzen sowie die im Jugendstrafrecht vorgesehene zusätzliche Bestrafung von geflüchteten Kindern, indem ihnen ihr Aufenthaltsstatus entzogen werden soll (Abs. 16, 40). Der Gesetzentwurf sieht vor, dass bei einer Verurteilung zu einer Jugendstrafe von mindestens drei Jahren der Schutzstatus automatisch entzogen wird, und bei einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren eine Möglichkeit zum Verlust des Aufenthaltsstatus besteht.

Mit freundlichen Grüßen,
Bianka Pergande (Sprecherin)
Üwen Ergün (Sprecher)

Den offenen Brief als PDF finden Sie hier.