Flucht und Ausbeutung

Gemeinsamer offener Brief zur deutschen EU-Ratspräsidentschaft: Die Rechte von Kindern in der Neuausrichtung der gemeinsamen europäischen Asylpolitik

42 Menschen- und Kinderrechtsorganisationen fordern: Die Rechte von Kindern müssen in einer Neuausrichtung der gemeinsamen europäischen Asylpolitik gewahrt werden.

Im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft wird die Bundesregierung die Neuausrichtung des gemeinsamen europäischen Asylsystems voraussichtlich zu einem ihrer Schwerpunkte machen. Die unterzeichnenden Organisationen erleben gegenwärtig, dass Kinder und ihre Familien in besonderem Maße an den europäischen Grenzen menschenunwürdigen Bedingungen ausgesetzt sind. Dazu gehören die gewalttätigen Grenzschutzmaßnahmen an der griechisch-türkischen Grenze, die „Hotspots“ auf den griechischen Inseln, die Situation an den EU-Außengrenzen auf dem Balkan und die Lager in Libyen, in die immer wieder Schutzsuchende zurückgeschoben werden. Eine Neuausrichtung des europäischen Asylsystems sollte daher darauf abzielen, die gegenwärtigen Probleme der flüchtenden Menschen zu lösen und rechtssichere Verfahren zu gewährleisten.

Im Hinblick auf die im Juli 2020 beginnende EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands und die Reformpläne des gemeinsamen europäischen Asylsystems (GEAS) fordern wir die deutsche Regierung auf, ihre bestehenden Verpflichtungen für Kinder wahrzunehmen und ihren Schutz und ihre Rechte auf europäischer Ebene während der Ratspräsidentschaft voranzutreiben. Die Bundesregierung erkennt selbst an, dass die besonderen Belange und Rechte von Familien mit Kindern und vulnerablen Personen – wie unbegleiteten Kindern – bei der Neuausrichtung des GEAS stets zu berücksichtigen sind. In diesem Sinne fordern wir folgende konkrete Maßnahmen: Kindeswohl vorrangig beachten, keine Haft und freiheitsbeschränkenden Maßnahmen, beschleunigte Familienzusammenführung innerhalb der EU, unverzügliche Verteilung von unbegleiteten Kindern, Schulungen für Grenzbeamt_innen in Kindesschutz, Einführung eines unabhängigen Monitoringmechanismus und Maßnahmen zur Rechenschaftspflicht.

Ein Drittel der Asylsuchenden in der EU sind Kinder

Kinder machen einen erheblichen Teil der Flüchtlinge und Migrant_innen aus, die in der EU ankommen oder dort bereits leben. Jede/r dritte Asylsuchende in der EU ist ein Kind [1]. Allein 2018 befanden sich 6,9 Millionen migrierte Kinder in der EU [2]. 30.000 Kinder sind in der EU als vermisst gemeldet worden, die Dunkelziffer ist weitaus höher [3].

Kinder sind in erster Linie Kinder

Die EU-Grundrechtecharta und die UN-Kinderrechtskonvention schreiben vor, dass Kinder – unabhängig von ihrem Migrationsstatus, ihrer Staatsangehörigkeit oder ihres Hintergrunds – als Kinder behandelt werden müssen [4]. Laut der UN Kinderrechtskonvention und der einschlägigen europäischen Richtlinien zu Aufnahmen, Verfahren und Schutz von Asylsuchenden sind alle Personen unter 18 Jahren, auch die über 14-Jährigen, Kinder und müssen in gleicher Weise geschützt werden. Die Achtung der Würde des Menschen und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit sind die Standards, an denen sich der Schutz geflüchteter Kinder messen lassen muss. Während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft hat die Bundesregierung die Chance, diese Werte und ihre Verpflichtung gegenüber Kindern in der Asylpolitik der Europäischen Union voranzubringen.

Außengrenzverfahren

Die Bundesregierung fordert in ihrer Positionierung zur Neuausrichtung des GEAS ein Außengrenzverfahren, das einer Verteilung auf die EU Staaten für alle Flüchtlinge und Migrant_innen vorgelagert sein soll. Auf den griechischen Inseln wird eine Version eines Außengrenzverfahrens in Form der “Hotspots” gerade durchexerziert [5]. Systematische Verletzung von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten sind dort gut dokumentiert. Die Unterbringungszustände sind katastrophal, es fehlt an medizinischer Versorgung, Kinder erfahren Gewalt. Zudem werden Verfahrensgarantien nicht eingehalten. Von einer kurzen Verfahrensdauer kann keine Rede sein. So verbleiben Kinder in diesen Außengrenzverfahren oft über sehr lange Zeit im Ungewissen. Diese Lager sind kein Ort für Kinder, auch nicht für andere besonders vulnerable Flüchtlinge und Migrant_innen.

Der Vorschlag der Bundesregierung sieht zwar vor, dass Geflüchtete auch ohne Ergebnis der
Vorprüfung an den Außengrenzen verteilt werden können, wenn über ihre Anträge nicht zügig entschieden werden kann. Die unterzeichnenden Organisationen bezweifeln jedoch, dass schnelle Entscheidungen in derartigen Außengrenzverfahren überhaupt bewerkstelligt und eine Überlastung verhindert werden kann. Grund dafür sind die Komplexität von Asylverfahren und die damit verbundenen Verfahrensgarantien, wie das Recht auf einen effektiven Rechtsbehelf. Auch die Asylgesuche von Personen aus sogenannten sicheren Herkunftsländern müssen beispielsweise individualisiert und unter Berücksichtigung aller Umstände des Schutzantrages geprüft werden, um dem Prinzip des Non-Refoulement und dem Verbot von Kollektivausweisungen gerecht zu werden [6].

Grenzschutz

Auch die Verbesserung des Außengrenzschutzes wird ein Schwerpunkt der Bundesregierung
während der deutschen Ratspräsidentschaft sein [7]. Beim Grenzschutz an den Außengrenzen Europas beobachten wir jedoch aus kinderrechtlicher Sicht besorgniserregende Entwicklungen. Der Kinderrechtsausschuss verurteilte letztes Jahr gewaltsame Pushbacks von unbegleiteten Kindern als Kinderrechtsverletzungen [8]. Dennoch kommt es insbesondere auf dem Balkan zu gewaltsamen, menschenrechtswidrigen Pushbacks, bei denen einreisende Kinder ohne individuelle Prüfung ihres Einreisegesuchs und Schutzanspruches in Länder wie Bosnien und Herzegowina und Serbien zurückgeschoben werden [9]. Kinder und Jugendliche berichten im Zusammenhang mit Pushbacks von Schlägen, Hundebissen, Erniedrigung [10]. Beim gewaltsamen Vorgehen gegenüber
flüchtenden Menschen an der türkisch-griechischen Grenze werden etwaige Schutzbedarfe
von Kindern und Jugendlichen ebenfalls ohne jegliche Rücksicht außer Acht gelassen.

Kinderrechtliche Forderungen für eine Neuausrichtung der gemeinsamen europäischen Asylpolitik

Die unterzeichnenden Organisationen fordern, auf Außengrenzverfahren, die Schutz- und Zulässigkeitsprüfungen – auch Vorprüfungen – beinhalten, zu verzichten und die Betroffenen gleich nach Ankunft und Identifizierung auf die Mitgliedsstaaten der EU zu verteilen. Nur so können die Überlastungen der Außengrenzeinrichtungen vermieden und die Rechte der Kinder berücksichtigt werden.

Die unterzeichnenden Organisationen fordern zudem, dass sich die Bundesregierung dafür
einsetzt, die von der europäischen Kommission erarbeitete Mitteilung zum Schutz minderjähriger Migranten [11] als Grundlage für Schutzmaßnahmen von Kindern in einem reformierten europäischen Asylsystem zu nutzen und explizit darauf Bezug zu nehmen. Die unterzeichnenden Organisationen setzen sich insbesondere ein für:

  1. Kindeswohl vorrangig beachten: In einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik müssen die Verfahren aller Kinder individuelle Kindeswohlprüfungen beinhalten. Gegenwärtig ist das weder in der Praxis noch im Vorschlag zur Neuausrichtung der Fall. Bei jedem Kind muss nach den internationalen Verpflichtungen Deutschlands geprüft werden, welche Maßnahmen dem Wohl und den Interessen des Kindes am meisten entsprechen [12].
  2. Keine Haft und freiheitsbeschränkenden Maßnahmen: Alleinreisende Kinder und solche,
    die im Familienverbund reisen, müssen gemäß internationaler und europarechtlicher Verpflichtungen von Haft ausgenommen werden [13]. Haft kann im Kontext von Migration auf Kinder verheerende Folgen haben – so führt sie zu hohen Selbstverletzungsraten, hohen Raten von psychischen Erkrankungen und Entwicklungsstörungen [14]. Gleiches gilt auch für freiheitsbeschränkende Maßnahmen, die rechtlich in Intensität und Dauer als weniger invasiv definiert sind, in der Praxis aber zu den gleichen Folgen für die Betroffenen führen können. Zudem zeigt das Beispiel der Entwicklung in Ungarn, dass es in der Praxis regelmäßig keinen Unterschied zwischen freihbeitsbeschränkenden Maßnahmen und Haft gibt. Die deutsche Regierung soll sich daher dafür einsetzen, dass Kinder auf europäischer Ebene explizit von Haft und allen freiheitsbeschränkenden Maßnahmen ausgenommen werden.
  3. Beschleunigte Familienzusammenführungen innerhalb der EU: Jeglicher neue Verteilmechanismus sollte den beschleunigten Familiennachzug beinhalten. Nach unserer Erfahrung brechen Kinder gegenwärtig aufgrund der langen Wartezeiten auf die Familienzusammenführung häufig eigenständig auf und verschwinden. Die geplante Neuausrichtung der europäischen Asylpolitik sieht bislang keine Maßnahmen vor, die Familienzusammenführung, wie in der UN-Kinderrechtskonvention vorgeschrieben, “wohlwollend, human und beschleunigt” zu behandeln. Hier muss dringend nachgebessert werden. Insbesondere sollten Maßnahmen eingeführt werden, um die langdauernden Dokumentenbeschaffungen zu erleichtern. Auch sollte im Zusammenhang mit Familienzusammenführungen ein erweiterter Familienbegriff angewandt werden, der Familienangehörige, Geschwister und Verwandte umfasst – ähnlich des Art. 8 Dublin-III-VO.
  4. Erhöhung des Resettlementkontingents in die EU: Die Bundesregierung sollte sich dafür einsetzen, dass das europäische Resettlementkontingent, insbesondere aus der Türkei, erhöht wird und sich endlich auf eine Verordnung zur Schaffung eines Neuansiedlungsrahmens der Union (sogenanntes EU Resettlement Framework) einigen.
  5. Unverzügliche Verteilung von unbegleiteten Kindern: Gegenwärtig werden insbesondere unbegleitete Kinder nicht zügig genug aus den Hotspots auf die Mitgliedsstaaten der EU verteilt. In einem reformierten europäischen Asylsystem muss sich dieses ändern. Unbegleitete Kinder müssen regelmäßig gleich nach der Ankunft und Identifizierung unter Ermittlung desfür ihr Kindeswohl besten Mitgliedstaates verteilt werden. Ein Verfahren zur Ermittlung von Schutzbedürftigkeit und die Bestimmung von Zuständigkeiten für das Verfahren sind dafür vonnöten, was aber bis jetzt nicht vorgesehen ist im Vorschlag der Regierung.
  6. Schulungen für Grenzbeamt_innen in Kinderschutz: Grenzbeamt_innen und Asylbeamt_innen an den Außengrenzen müssen erkennen können, wenn Anzeichen für Menschenhandel und andere Kinderrechtsverletzungen vorliegen. Ein Verweissystem an die entsprechenden Stellen für das weitere Verfahren muss allen Beamt_innen bekannt und der Einbezug von Kinderschutzexpert_innen sichergestellt werden. Auch sollten Sozialpädagog_innen, Ärzt_innen und Psycholog_innen hinzugezogen werden.
  7. Einführung eines unabhängiger Monitoringmechanismus: Rechtsstaatlichkeit und die Einhaltung von Menschenrechten müssen gewährleistet werden – egal wie Grenzschutz und darauffolgende Verfahren zur Verteilung ausgestaltet sind. Dies schließt einen effektiven Beschwerdemechanismus für Menschenrechtsverletzung, anwaltliche Vertretung und Vormundschaft bei unbegleiteten Kindern ein. Um Rechtsverletzungen durch Staaten und einzelne Akteure aufdecken und ahnden zu können, muss ein unabhängiger Monitoringmechanismus eingeführt werden. Da Geflüchtete und Migrant_innen in grenznahen Verfahren häufig schutzlos vor staatlicher Willkür sind, muss ein Monitoringmechanimus vor allem unabhängig und niedrigschwellig, also einfach für Betroffene erreichbar sein. Ein solcher Mechanismus könnte beispielsweise bei der EU Grundrechteagentur angesiedelt sein.

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[1] Between January and June 2019, 94,040 children applied for asylum in Europe out of 297,580 asylum seekers; UNHCR, UNICEF, IOM, Refugee and Migrant Children in Europe, Overview of Trends in January-June 2019, December 2, 2019, accessed January 8, 2020, https://data2.unhcr.org/en/documents/download/72643.

[2] Günter Schumacher et al., JRC Technical Report, European Commission, Data on Children in Migration, 2019, http://bit.ly/2T0qmVh.

[3] EMN, Approaches to unaccompanied minors following status determination in the EU + Norway: Synthesis Report for the EMN Study, July 2018, http://bit.ly/2SYoNXX.

[4] Council conclusions on unaccompanied minors, 3018th Justice and Home Affairs Council
meeting, Luxembourg, 3 June 2010, para c.

[5] Siehe bspw. HRW, World Report 2020: Greece, https://www.hrw.org/world-report/2020/country-chapters/greece.

[6] Art. 3 EMRK, Art. 33 GFK; Art. 4 ZP Nr. 4 der EMRK, EGMR, Rs. 16483/12, NLMR 5/2015-EGMR, Rn. 145 ff.

[7] Gudula Geuther, Asylpolitik so wichtig wie der „Green Deal“, Deutschlandfunk.de,
04.02.2020, https://www.deutschlandfunk.de/deutsche-eu-ratspraesidentschaft-asylpolitik-so-wichtig-wie.1766.de.html?dram:article_id=469495.

[8] UN-Kinderrechtskommittee, D.D. gegen Spanien (01.Februar 2019), veröffentlicht in: Views adopted by the Committee under the Optional Protocol to the Convention on the Rights of the Child on a communications procedure, concerning communication No. 4/2016, Dok. Nr. CRC/C/80/D/4/2016, 15. Mai 2019, Rn. 14.6- 14.9 (Verletzung des Verbots von Folter nach Art. 37 UN-KRK, Verletzung des Kindeswohls nach Art. 3 UN-KRK sowie Verletzung des Rechts auf Betreuung außerhalb der Familie gemäß Art. 20 UN-KRK).

[9] Reports about push backs and violence against children at the Western Balkans borders:
July – September 2019, Save the Children,11.12.2019, https://nwb.savethechildren.net/news/reports-about-push-backs-and-violence-against-children-western-balkans-borders-july-september.

[10] Reports about push backs and violence against children at the Western Balkans borders: July – September 2019, http://bit.ly/2T4xbp7.

[11] Mitteilung der Kommission an das europäische Parlament und den Rat: Schutz minderjähriger Migranten, Dok. Nr. COM(2017) 211 final, 12.04.2017.

[12] Art. 3 UN-KRK; Council conclusions on unaccompanied minors, 3018th Justice and Home Affairs Council meeting, Luxembourg, 3 June 2010, para c.

[13] U.N. Committee on the Rights of the Child, Report of the 2012 Day of General Discussion on the Rights of All Children in the Context of International Migration, Rn. 78 f.; FRA, European legal and policy framework on immigration detention of children, S. 8, https://fra.europa.eu/sites/default/files/fra_uploads/fra-2017-immigration-detention-children_en.pdf.

[14] Save the Children, Unlocking Childhood: Current immigration detention practices and alternatives for child asylum seekers and refugees in Asia and the Pacific, 24.05.2017.

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Diese Organisationen zeichnen den Brief mit:

ACAT-Deutschland

AWO Bundesverband

Berufsverband Kinderkrankenpflege Deutschland

Bildungswerk für Schülervertretung und Schülerbeteiligung

Bundesarbeitsgemeinschaft Mädchen*politik

Bundesweite Arbeitsgemeinschaft Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer

Bundesverband der Freien Alternativschulen

Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge

Bundesverband Kinderhospiz

Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie

Deutsche Gesellschaft für Prävention und Intervention bei Kindesmisshandlung, -vernachlässigung und sexualisierter Gewalt

Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie

Deutscher Caritasverband

Deutscher Kinderschutzbund Bundesverband

Deutsches Kinderhilfswerk

Diakonie Deutschland

djo – Deutsche Jugend in Europa Bundesverband

ECPAT Deutschland

Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden

Frauen in der Einen Welt

GreenBirth

GRIPS Theater

International Society for Pre- and Perinatal Psychology and Medicine

Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen

Institut für soziale Arbeit

Jesuiten-Flüchtlingsdienst Deutschland

Kindernothilfe

KRF KinderRechteForum

M.A. Childhood Studies and Children’s Rights

Montessori-Landesverband Baden-Württemberg

National Coalition Deutschland – Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention

Nürnberger Menschenrechtszentrum

OUTLAW. die Stiftung

PFAD Bundesverband der Pflege- und Adoptivfamilien

Plan International Deutschland

PRO ASYL

Save the Children Deutschland

SOCLES International Centre for Socio-Legal Studies

Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken

terre des hommes Deutschland

Verband binationaler Familien und Partnerschaften

World Vision Deutschland