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Data Literacy: Wie man Daten und Statistiken richtig liest

Dr. Jens Pothmann ist seit 1999 als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik (AKJStat) tätig. Die Arbeitsstelle analysiert insbesondere die von den Trägern der Kinder- und Jugendhilfe zur amtlichen Statistik gemeldeten Daten und will deren Nutzung qualifizieren. Bei der Sitzung des Themennetzwerkes Flüchtlingskinder der National Coalition im November 2017 erläuterte der Diplom-Pädagoge im Rahmen seines Vortrages die Datenlage zum Thema Migration und Flucht und gab einen Einblick in die Forschungsarbeiten der AKJStat.

Herr Pothmann, mit welchen Erhebungsinstrumenten werden Daten in der Kinder- und Jugendhilfe gesammelt?

Wir beschäftigen uns in der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik an der TU Dortmund insbesondere mit den amtlichen Daten zu Kinder- und Jugendhilfe, das sind Daten zu den Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe wie Einrichtungen, tätige Personen, Ausgaben aber auch konkrete Leistungen wie z. B. Hilfen zur Erziehung, Hilfen für junge Volljährige oder Inobhutnahme. Speziell zum Thema der geflüchteten jungen Menschen ist es so, dass wir neben den Daten der Kinder- und Jugendhilfestatistik auch amtliche Statistiken und Verwaltungsdaten aus den Bereichen Integration, Migration und Schutz auswerten.

In den Jahren 2014 und 2015 wurde die Datenlage zu Recht kritisiert und bemängelt. Damals fehlte eine Menge an Daten bzw. bestehendes Material wurde nicht ausgewertet. Oft waren Daten auch nicht leicht zugänglich. Das hat sich verbessert. Es liegen mittlerweile nicht nur mehr, sondern auch differenziertere Daten vor. Heute liegen auch mehr Daten zu jungen, geflüchteten Menschen vor: Flucht hat ein junges Gesicht.

Gibt es Besonderheiten in der Erhebung von Daten von Menschen, die nach Deutschland geflüchtet sind?

Ja, zahlreiche. Da wären bei direkten Befragungen beispielsweise Sprach- und Verständigungsprobleme, die die Ergebnisse verzerren können. Nicht unterschätzen sollte man auc, dass manche Angaben oder Antworten der nach Deutschland Geflüchteten – ob nun zurecht oder nicht – durch strategisch-taktische Überlegungen – z.B. mit Blick auf eine bevorstehende Altersfeststellung, einen möglichen Familiennachzug oder auch das aktuelle Asylverfahren – beeinflusst werden können.

Speziell bei den amtlichen Sozialstatistiken gibt es aber noch mindestens zwei weitere Herausforderungen: Erstens ist dies grundsätzlich die spezifische Sichtweise der Erhebungen auf junge Geflüchtete. Diese ist immer vermittelt und geschieht quasi durch eine „Institutionenbrille“. Zweitens muss man beim Blick auf die Daten der letzten Jahre angesichts der konkreten Umstände berücksichtigen, dass zumindest 2015, zum Teil aber auch noch 2016, die zuständigen Stellen überlastet und überfordert waren. Dies hatte zur Folge, dass „Statistik“ – um es vorsichtig zu sagen – zumindest nicht ganz oben auf der Prioritätenliste gestanden hat. So ist es in dieser Zeit auch zu Fehlerfassungen gekommen – beispielsweise bei den Zahlen zu den Erstregistrierungen im Rahmen des damaligen „Easy-Verfahrens“, aber auch in der Jugendhilfestatistik bei den Inobhutnahmen.

Was verstehen Sie unter einer Indikatoren-gestützten Berichterstattung?

Das ist eine Form der empirischen Dauerbeobachtung, die auf zwei Säulen beruht: einerseits auf der Survey-Forschung, beispielsweise seitens des Deutschen Jugendinstituts in München, andererseits auf einer regelmäßigen Auswertung und wissenschaftlichen Kommentierung amtlicher Statistiken und Verwaltungsdaten.

Eine wesentliche Herausforderung für eine solche Berichterstattung besteht sicherlich darin, die relevanten und zentralen Indikatoren aus dem umfangreichen Datenmaterial herauszuarbeiten, beispielsweise zum Ankommen in Deutschland, zu schutz- und asylsuchenden jungen Menschen, zu ihrer Lebens- und Familiensituation, zur Unterbringung oder auch zur finanziellen und materiellen Ausstattung sowie der gesundheitlichen Lage.

Das klingt umfassend und auch hier liegt wiederum eine Gefahr. Solche Datenmengen können schnell zu einem Datenfriedhof werden. Die Sammlung, Aufbereitung und Pflege der Zahlen dürfen nicht zum Selbstzweck werden. Vielmehr geht es um Auswertungen und Analysen, die auf Erkenntnisgewinn, eine empirisch fundierte Praxisentwicklung, aber auch auf Politikgestaltung für unterschiedliche Ebenen abzielen sollten. Um dabei aber nicht die Erwartungen zu hoch zu schrauben: Die Daten geben dabei nicht immer nur Antworten – schon gar keine eindeutigen, sondern helfen mitunter die richtigen Fragen zu stellen.

Der Datenjournalismus erlebt in den letzten Jahren aufgrund steigender Datenmengen und auch durch neue visuelle Darstellungsmöglichkeiten neuen Auftrieb. Sind denn zivilgesellschaftliche Akteure ausreichend mit Daten und statistischem Know-how ausgestattet, um die Umsetzung der Kinderrechte in Deutschland zu prüfen?

Die Entwicklungen im Journalismus können Sie natürlich viel besser beurteilen. Sicher scheint mir aber, dass eine umfassende und zuverlässige Datengrundlage auch in den nächsten Jahren gebraucht werden wird, und zwar nicht nur zu den Themen rund um Flucht und Migration. Aktuell steht ja beispielsweise – wie Sie es schon andeuten – die Erstellung des Staatenberichts zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention an. Nun gibt es aber nicht die eine Statistik zur Umsetzung der Kinderrechte. Das würde es sicher einfacher machen.

Vielmehr muss man sich einen Überblick über die verschiedenen Datenquellen verschaffen und man sollte abklopfen, welche Zahlen helfen, Aussagen über die Umsetzung der Kinderrechte in Deutschland zu machen. Und wenn es ganz gut läuft, kommt man vielleicht sogar zu Indikatoren über die Umsetzung der Kinderrechte, die nicht nur für diesen, sondern auch für die nächsten Berichte genutzt und fortgeschrieben werden können.

Welche Herausforderungen und Chancen sehen Sie auch für Ihre eigene Arbeit?

Natürlich möchte Forschung immer mehr wissen und eigentlich fehlen immer wichtige Daten. Das ist beim Thema Flucht und Migration junger Menschen nicht anders. Doch richtig ist auch, dass sich die Datenverfügbarkeit in den letzten Jahren verbessert hat. Die Datenlage ist alles in allem vielleicht nicht gut, aber sie ist besser geworden.

Und auch in Sachen Aufbereitung der Daten ist etwas passiert: Die Bundeszentrale für politische Bildung hat mittlerweile genauso ein beachtliches Datenangebot online aufgebaut wie auch der Mediendienst Integration und wie im Übrigen auch die amtliche Statistik ihre Ergebnisse weitaus nutzerfreundlicher präsentiert als noch vor einigen Jahren. Allerdings ist es nach wie vor auch so, dass Angaben zu unbegleiteten ausländischen Minderjährigen aus dem Ausländerzentralregister nicht verfügbar sind.

In der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik werten wir nicht nur Daten aus und erstellen Analysen, sondern wir entwickeln im Rahmen unserer Arbeiten auch Interpretations- und Lesehilfen für die jeweiligen Daten. Wir stellen dabei auch fachliche Bezüge zu aktuellen Praxisentwicklungen, aber auch zu politischen Debatten her. Dabei besteht ein wesentlicher Teil unserer Arbeit darin, Lesarten für die Daten zu entwickeln und auf Fallstricke in den Statistiken hinzuweisen. Wenn man so will, befassen wir uns in unseren Arbeiten mit dem, was man auch „data literacy“ nennt und arbeiten daran für die Kinder- und Jugendhilfe und ihre angrenzenden Felder. Unsere Ergebnisse veröffentlichen wir dreimal pro Jahr kostenlos im Rahmen unserer Förderung durch im so genannten

Das war und ist mit Blick auf das Thema Geflüchtete insofern für uns als Projekt eine große Herausforderung, als dass wir auch erst lernen mussten und immer noch dazulernen, wie die Zahlen zu Flucht und Migration interpretiert, kontextualisiert oder überhaupt verwendet werden können. Wir hoffen aber natürlich mit unserer Arbeit auch einen Beitrag leisten zu können, um zivilgesellschaftliche Akteure im Datenlesen fitter zu machen.